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Innere Getriebenheit bei ADHS und Trauma - Wenn das Nervensystem nicht zur Ruhe kommt


Verschwommenes Frauenportrait vor grauem Hintergrund - das Gesicht ist durch schnelle Kopfbewegungen verwischt, symbolisiert innere Unruhe und Getriebenheit bei ADHS und Trauma
Wenn Gedanken rasen, der Körper auf Empfang bleibt und das Jetzt keinen Halt gibt entsteht das Gefühl, als würde man sich selbst verlieren.

Menschen mit ADHS im Erwachsenenalter und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS) leiden häufig unter einem Gefühl permanenter innerer Getriebenheit, ständiger Anspannung und chronischem innerem Druck. Hinter dieser Dynamik steht nicht mangelnde Disziplin, sondern eine tief verwurzelte Kombination aus neurologischer Reizoffenheit, traumabedingter Übererregung und alten Copingstrategien. In diesem Beitrag erfährst du, warum Ruhe sich oft bedrohlich anfühlt – und wie eine traumasensible Therapie bei ADHS und komplexem Trauma helfen kann, dein Nervensystem zu regulieren und innere Sicherheit zurückzugewinnen.


Viele Erwachsene kennen das Gefühl, nie zur Ruhe zu kommen. Immer ist etwas zu tun, zu organisieren, zu erledigen – und selbst in freien Momenten drängt ein innerer Motor zur nächsten Aufgabe. Was von außen wie Stress oder Überengagement wirken mag, ist oft Ausdruck einer tief verwurzelten inneren Unruhe: einer Kombination aus ADHS im Erwachsenenalter und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS).


Beide Störungsbilder können für sich genommen schon herausfordernd sein. Doch wenn sie gemeinsam auftreten, entsteht eine innere Dynamik, die sich gegenseitig verstärkt – neurobiologisch, emotional und im Alltag. Dieser Beitrag beleuchtet, was im Gehirn passiert, wie sich die Symptome überlagern und wie ein therapeutischer Weg aus der ständigen Überforderung aussehen kann.


Innere Getriebenheit bei ADHS – Wenn das Gehirn im Dauer-Scan-Modus läuft


ADHS im Erwachsenenalter ist weit mehr als bloße Vergesslichkeit oder Ablenkbarkeit. Viele Betroffene schildern ein intensives inneres Erleben, das sich kaum in Worte fassen lässt: ein ständiger innerer Antreiber, ein „Weiter!“, das nie zur Ruhe kommt. Als würde das Gehirn permanent auf Empfang stehen – im Hintergrund läuft ununterbrochen ein Scan-Modus, der nach offenen Aufgaben, potenziellen Gefahren oder neuen Reizen sucht.


Dieses Gefühl der inneren Getriebenheit ist kein Charakterfehler. Es ist die Folge einer anderen neurobiologischen Grundkonfiguration des Gehirns – insbesondere in Verbindung mit chronischem Stress oder früher Traumatisierung, wie sie bei komplexer PTBS häufig vorkommt.


Das Getriebensein ist nicht nur ein innerer Druck – es ist körperlich spürbar.

Viele Betroffene beschreiben:


  • einen ständig erhöhten Grundtonus der Muskulatur,


  • Einschlafprobleme oder unruhigen Schlaf,


  • ein Herzklopfen, das scheinbar grundlos auftritt,


  • eine Unfähigkeit, sich „hinzugeben“ – selbst in stillen Momenten.


Neurobiologische Grundlagen


Ein empfindliches Dopamin-System


Menschen mit ADHS zeigen eine veränderte Regulation des Botenstoffs Dopamin, der zentral für Motivation, Belohnungsverarbeitung und Zielorientierung ist. Das Gehirn reagiert oft weniger stark auf „normale“ Reize – was zur Folge hat, dass alltägliche Aufgaben als langweilig, sinnlos oder zu mühselig empfunden werden.


Die Folge:


  • Impulsives Verhalten, um schnell einen dopaminergen „Kick“ zu erhalten


  • Prokrastination, weil die innere Aktivierung nicht ausreicht


  • Verlust an Zielgerichtetheit, obwohl der Wunsch nach Struktur eigentlich groß ist


Studien zeigen, dass bei ADHS – vor allem in Kombination mit Traumatisierung – das Stresssystem dauerhaft aktiviert sein kann. Die Amygdala (das emotionale Alarmsystem) feuert schneller, der präfrontale Kortex (die Bremse) greift später. Der Körper ist im ständigen Alarmmodus, auch wenn keine reale Bedrohung da ist.


Time Blindness – Wenn Zeitgefühl fehlt


Ein häufiges Phänomen bei ADHS ist die sogenannte Time Blindness: die Unfähigkeit, Zeit realistisch einzuschätzen oder vorauszuplanen.

Betroffene:


  • unterschätzen regelmäßig, wie lange Dinge dauern


  • fangen Aufgaben zu spät an


  • geraten durch aufgestaute To-dos in massiven inneren Druck



Oft kippt der Tag dann in ein Gefühl von Panik oder Versagen – nicht, weil man „faul“ war, sondern weil das Gehirn Schwierigkeiten hat, zeitliche Abläufe zu steuern.


Emotionale Dysregulation & Dauerstress


ADHS ist nicht nur eine Aufmerksamkeitsstörung, sondern betrifft auch die emotionale Selbstregulation. Reize, Kritik oder Konflikte lösen schnell intensive Gefühlsreaktionen aus – nicht, weil Betroffene „übertreiben“, sondern weil das Gehirn Schwierigkeiten hat, emotionale Impulse zu dämpfen.


Zugleich zeigen Studien, dass bei vielen Betroffenen das Stresssystem dauerhaft aktiviert ist – vor allem, wenn zusätzlich traumatische Erfahrungen vorliegen. Die Amygdala, das Alarmsystem des Gehirns, reagiert schneller und intensiver. Der präfrontale Kortex, der normalerweise regulierend eingreift, ist weniger aktiv. Der Körper lebt in einem chronischen Alarmzustand – mit hohem Cortisolspiegel, innerer Unruhe und ständiger Übererregung.


Typische Anzeichen:


  • plötzliche Wut, obwohl man eigentlich ruhig bleiben wollte


  • Tränen aus dem Nichts


  • ein tiefes Gefühl von innerer Verletzung nach kleinen Bemerkungen


  • das Gefühl, nie wirklich „runterzukommen“



Alltagserfahrungen, die viele kennen


  • Du willst nur kurz deine Mails checken – und verlierst dich drei Stunden in Social Media, Tabs und Gedankenstrudeln.


  • Du funktionierst im Job – aber zu Hause herrscht Chaos. Du verurteilst dich dafür, obwohl du erschöpft bist.


  • In Beziehungen reagierst du aufgebracht oder verletzt – und weißt nicht, warum du „so schnell“ warst.


  • Du versuchst zu entspannen – aber die innere Unruhe wird dann noch lauter.


Diese Momente sind typisch für viele Erwachsene mit ADHS – und sie sind kein Beweis von Schwäche. Vielmehr spiegeln sie die Dynamik eines Gehirns, das mehr leistet, als es zeigt – und ständig auf Hochtouren läuft.



Der Preis der Anpassung


Viele Menschen mit ADHS entwickeln über die Jahre komplexe Strategien, um zu funktionieren: To-do-Listen, Kalender, Deadlines, Selbstoptimierung. Sie erscheinen nach außen oft organisiert, leistungsfähig, kreativ.


Doch innerlich?


  • chronische Erschöpfung


  • das Gefühl, nie anzukommen


  • Selbstzweifel und Überforderung


  • ständiges Gefühl: „Ich bin zu viel – und doch nie genug.“


  • das tiefe Bedürfnis nach Pause – bei gleichzeitiger Unfähigkeit, sie zuzulassen



Pausen fühlen sich oft nicht sicher an. Sie sind nicht entspannend, sondern lösen noch mehr Druck aus – das Gehirn sucht sofort nach der nächsten Aufgabe, nach Kontrolle, nach Sinn.


ADHS ist kein Mangel an Willenskraft. Es ist Ausdruck eines anders verdrahteten Gehirns – das gleichzeitig herausfordert und besondere Stärken birgt.



Innerer Alarmzustand bei komplexer PTBS – Wenn das Nervensystem auf Überleben programmiert bleibt


Menschen mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS) leben oft mit einem Nervensystem, das sich nie ganz sicher fühlt – selbst dann nicht, wenn objektiv alles ruhig ist. Im Unterschied zur ADHS, wo die Reizverarbeitung anders organisiert ist, geht es bei kPTBS um ein tief verkörpertes, dauerhaft aktiviertes Alarmsystem.


Dieser Alarmzustand ist kein Gedanke – er ist ein Gefühl im Körper. Ein unterschwelliges Zittern, eine ständige Wachsamkeit, das Gefühl: „Etwas kann jederzeit passieren.“ Und genau das hat das Nervensystem gelernt – oft über viele Jahre hinweg.


Entwicklungstrauma: Die verkörperte Unsicherheit


Bei komplexen Traumatisierungen handelt es sich meist nicht um ein einzelnes, klar abgrenzbares Ereignis, sondern um eine chronisch unsichere Beziehungserfahrung in der Kindheit. Dazu gehören:


  • emotionale Vernachlässigung oder Kälte


  • unberechenbares Verhalten der Eltern (z. B. durch Alkohol, psychische Erkrankungen, Gewalt)


  • dauerhafte Anspannung in der Familie – ohne Worte, ohne Schutz


In solchen Lebenskontexten fehlt das, was Kinder zur Regulation brauchen: sichere Bindung, emotionale Resonanz und körperliche Beruhigung durch andere. Stattdessen lernt das kindliche Nervensystem: „Ich muss wachsam bleiben. Sicherheit ist trügerisch.“


Diese Botschaft speichert sich tief im Körpergedächtnis – und bleibt oft auch im Erwachsenenalter aktiv.


Der Körper im Dauerstress – neurobiologische Grundlagen


Amygdala-Überaktivität


Die Amygdala, das emotionale Gefahrenradar im Gehirn, ist bei kPTBS dauerhaft in erhöhter Alarmbereitschaft. Das bedeutet:


  • Neutrale Reize werden potenziell als Bedrohung interpretiert


  • Reaktionen wie Erstarren, Herzrasen oder Rückzug treten auch dann auf, wenn keine reale Gefahr besteht


  • Der Körper schaltet blitzschnell auf Abwehr – ganz ohne bewusste Entscheidung



Fehlender Zugang zum ventralen Vagus


Der ventrale Vagusnerv, zuständig für Entspannung, soziale Nähe und Ruhe, ist bei komplex traumatisierten Menschen oft unteraktiviert.

Die Folge:


  • Erholung fällt schwer


  • Zwischenmenschliche Nähe fühlt sich bedrohlich oder unnatürlich an


  • Selbst scheinbar entspannte Situationen lösen Alarm aus




Chronische Sympathikus-Aktivität


Das autonome Nervensystem bleibt im Sympathikus-Modus:


  • Puls und Muskeltonus sind dauerhaft erhöht


  • Verdauung, Schlaf und Regeneration werden gestört


  • Der Körper lebt in Erwartung der nächsten „Katastrophe“ – auch wenn keine kommt



„Ich sitze auf dem Sofa, aber mein Körper wartet, dass gleich etwas explodiert.“

– Eine Betroffene


Bedrohungsantizipation – wenn das Nervensystem in der Zukunft lebt


Viele Menschen mit kPTBS erleben eine Form der diffusen Vorahnung:


  • „Gleich passiert etwas“


  • „Ich darf nicht unachtsam sein“


  • „Wenn ich entspanne, verliere ich die Kontrolle“


Diese Gedanken sind keine kognitiven Überzeugungen im klassischen Sinn, sondern verkörperte Wahrnehmungen – gespeist aus früheren Erfahrungen, in denen echte Gefahr mit scheinbarer Ruhe verknüpft war. Der Körper „erinnert“ sich: Damals begann der Übergriff auch mit einem ruhigen Moment.


Frühe Copingstrategien – Wenn Kinder überleben statt leben


Kinder sind auf Schutz und Bindung angewiesen – selbst dann, wenn die Bezugspersonen unberechenbar, überfordert oder abweisend sind. Um seelisch zu überleben, entwickeln sie Strategien, die aus heutiger Sicht wie Persönlichkeitsanteile wirken.


Typische innere Überlebensrollen:


  • Die Leistungsorientierte: „Wenn ich perfekt bin, passiert mir nichts.“


  • Die Überanpassende: „Wenn ich alles richtig mache, wird niemand böse.“


  • Die Kontrollierende: „Wenn ich alles im Griff habe, bin ich sicher.“


  • Die Unsichtbare: „Wenn ich nicht auffalle, bleibe ich verschont.“


  • Die Fürsorgliche: „Wenn ich mich um alle kümmere, werde ich gebraucht.“


Diese Strategien sind kluge Anpassungen – sie sichern Bindung in bedrohlichen Umfeldern. Aber im Erwachsenenleben werden sie zu inneren Antreibern, die keine Pausen erlauben. Der Mensch funktioniert – aber unter enormem inneren Druck.


„Ich war als Kind immer angespannt, weil ich nie wusste, wie meine Mutter drauf ist. Heute bin ich erwachsen – aber innerlich bleibt alles angespannt.“



Wenn Ruhe zur Bedrohung wird


Einer der schmerzhaftesten Effekte komplexer Traumatisierung ist:

Ruhe fühlt sich nicht sicher an. Denn wer als Kind gelernt hat, dass nach der Stille der Schrecken kommt, kann auch Jahrzehnte später nicht loslassen. Statt Entspannung entsteht Unruhe. Statt Vertrauen – Kontrolle.

Der Körper kennt keinen echten „Safe Mode“. Und das macht chronisch müde. Nicht, weil man nicht loslassen möchte – sondern weil man es nicht gelernt hat.



Wenn ADHS und kPTBS zusammentreffen – Die neurobiologische Verstärkerschleife


Wenn ADHS und komplexe Traumatisierung im selben Menschen zusammentreffen, entsteht oft ein intensiver, schwer greifbarer innerer Zustand: hochreguliert, getrieben, alarmiert – und doch erschöpft.


Beide Störungsbilder haben jeweils für sich schon eine starke Wirkung auf das Nervensystem. Doch wenn sie sich überlagern, verstärken sie sich gegenseitig in einer Verstärkerschleife:


  • ADHS bringt eine erhöhte Impulsivität und emotionale Reaktivität mit


  • kPTBS bringt ein dauerhaft aktiviertes Alarmsystem und tiefe innere Unsicherheit mit


Das Ergebnis: Ein Nervensystem, das sich selbst kaum beruhigen kann – weil es gleichzeitig auf Gefahrensuche und auf Aktivierung gepolt ist.



Wenn das Nervensystem keine Beruhigung findet


Viele Betroffene kennen diesen Zustand:


  • ständig angespannt, aber auch ständig müde


  • rastlos, aber ohne echtes Ziel


  • emotional durchlässig, aber ohne innere Sicherheit


Die inneren Glaubenssätze aus der Kindheit („Ich darf keine Fehler machen“, „Ich muss alles im Griff haben“) treffen auf die typische ADHS-Dynamik von Ablenkbarkeit, Impulsivität oder Konzentrationsstörungen. Das erzeugt nicht nur Selbstzweifel, sondern ein Gefühl, gegen sich selbst zu arbeiten.


„Ich funktioniere nur, wenn ich ständig aktiv bin – aber ich halte es nicht mehr aus.“


ADHS + Trauma = ein Verstärker für emotionale Dysregulation


Sowohl ADHS als auch komplexe Traumatisierung gehen mit einer gestörten Regulation von Emotionen einher – aber auf unterschiedliche Weise. Wenn beide Systeme zusammenwirken, entsteht ein Nervensystem, das:


  • sehr schnell emotional anspringt,


  • langsam wieder herunterfährt,


  • und kaum innere Sicherheit kennt, um diese Prozesse bewusst zu steuern.


1. Die Amygdala schlägt früher und häufiger Alarm


Die Amygdala ist das emotionale Frühwarnsystem im Gehirn. Bei Menschen mit ADHS ist sie oft reaktiver, besonders bei Frustration, Stress oder Ablehnung. Bei komplexer PTBS ist sie chronisch hyperaktiviert, weil das System über Jahre gelernt hat: „Ich bin nie ganz sicher.“


Die Folge: Selbst kleine Reize – eine Nachricht, ein Blick, ein leiser Vorwurf – können wie ein existenzieller Angriff wirken. Der Körper geht in Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmodus, ohne dass der Verstand das vorher mitentscheiden kann.


2. Der präfrontale Kortex greift zu spät ein


Normalerweise bremst der präfrontale Kortex impulsive oder emotionale Reaktionen. Doch bei ADHS ist dieser Bereich häufig unteraktiv. In Kombination mit einer traumatisierten Amygdala ist das Ergebnis fatal:


  • Die Reaktion kommt vor der Reflexion


  • Scham oder Selbstkritik setzen danach ein


  • Das Gefühl, „nicht Herr der Lage“ zu sein, verstärkt sich


„Ich weiß, dass es übertrieben war. Aber in dem Moment konnte ich nicht anders.“


3. Fehlende Ko-Regulation aus der Kindheit


Komplexe Traumatisierungen entstehen oft in Bindungssystemen, in denen das Kind nicht gelernt hat, wie man sich in der Nähe eines anderen reguliert. Es gab keine einfühlsame Mutter, keinen emotional verlässlichen Vater.


Das führt dazu, dass im Erwachsenenalter:


  • keine inneren Beruhigungsmuster verfügbar sind,


  • das Nervensystem auf Autonomie statt Beziehung eingestellt ist,


  • soziale Situationen entweder überfordernd oder bedeutungslos wirken.


In Kombination mit ADHS – das ohnehin Schwierigkeiten mit Reizfilterung und Impulssteuerung hat – entsteht so eine Dauerschleife aus Überreizung, Scham, Rückzug und erneutem Überfordern.





Was hilft – und wie kann Therapie unterstützen?


Der Weg aus innerer Getriebenheit führt nicht über Disziplin, Selbstoptimierung oder Willenskraft. Wer jahrelang gelernt hat, im Alarmzustand zu funktionieren, braucht keine weiteren Appelle zur Effizienz – sondern Sicherheit, Selbstverständnis und neue, regulierende Erfahrungen.


Therapie kann dabei ein entscheidender Anker sein. Sie bietet den Raum, in dem das Nervensystem langsam umlernen darf: weg vom Überleben, hin zu Verbundenheit, Ruhe und Selbstfreundlichkeit.


Verstehen statt Verurteilen – Die Kraft der Psychoedukation


Ein erster Schritt, der oft sofort Erleichterung bringt, ist das Verstehen des eigenen Erlebens. Wenn Klient:innen begreifen, dass ihre Symptome Ausdruck einer neurobiologisch logischen Reaktion auf frühere Erfahrungen sind – nicht persönliches Scheitern –, verändert sich der innere Blick.


Psychoedukation erklärt:


  • wie ADHS das Gehirn anders strukturiert,


  • wie Trauma das Nervensystem auf Dauer-Alarm schaltet,


  • warum Ruhe bedrohlich und Aktivität „sicher“ erscheint.


Dieses Wissen entlastet. Es schafft eine neue innere Sprache – weg von Selbstvorwürfen, hin zu Mitgefühl für das eigene Funktionieren.


Pacing statt Perfektionismus – neue Rhythmen lernen


In der Therapie lernen viele Betroffene erstmals, was es bedeutet, nicht gegen das eigene Nervensystem zu arbeiten, sondern mit ihm. Der Schlüssel dazu liegt im Pacing – dem achtsamen Dosieren von Aktivität und Belastung.


Das bedeutet konkret:


  • nicht durchhalten, sondern rechtzeitig innehalten,


  • nicht alles sofort, sondern schrittweise tun,


  • nicht auf Leistung zielen, sondern auf Stimmigkeit und Regulation.


Pacing heißt nicht, weniger zu tun – sondern klüger zu steuern.


Ein zentrales Ziel ist es, die Signale des Körpers frühzeitig zu erkennen: Wann kippt die Energie in Getriebenheit? Wann wird Aktivität zur Überforderung? Hier unterstützt die Therapie mit Struktur, Selbstbeobachtung und emotionaler Erlaubnis zur Pause.


Externe Struktur + innere Nachsicht


Viele Menschen mit ADHS und Trauma erleben innere Struktur als brüchig. Daher braucht es äußere Hilfen, um den Tag zu organisieren – aber gleichzeitig auch innere Milde, wenn nicht alles gelingt.


Hilfreiche Ansätze:


  • To-do-Listen mit maximal drei realistischen Aufgaben,


  • klare, einfache Routinen mit großzügigen Puffern,


  • Reize dosieren, statt sich von zu vielen Optionen überfluten zu lassen,


  • Fehlerfreundlichkeit kultivieren: Was nicht klappt, ist kein Rückschritt – sondern Feedback.


Therapie kann dabei helfen, einen Alltag zu gestalten, der nicht Überforderung produziert, sondern Sicherheit gibt.


Beziehung als Ressource – Co-Regulation lernen


Viele traumatisierte ADHS-Betroffene haben nie erlebt, wie es sich anfühlt, im Kontakt mit einem anderen Menschen zur Ruhe zu kommen. Die therapeutische Beziehung kann hier eine entscheidende neue Erfahrung ermöglichen:


  • gehalten werden, ohne kontrolliert zu werden,


  • gesehen werden, ohne bewertet zu werden,


  • sich zeigen dürfen – auch in Dysregulation – und trotzdem willkommen zu sein.



Ko-Regulation in der Therapie bedeutet, dass ein anderes Nervensystem zur Verfügung steht, wenn das eigene überfordert ist. Das allein kann tief heilend wirken.

Langfristig stärkt Therapie auch die Fähigkeit zur Selbstregulation und den Aufbau sicherer, tragfähiger Beziehungen außerhalb des Therapieraums.


Ansätze wie IFS, NARM oder PITT helfen, innere Anteile zu verstehen, emotionale Verstrickungen zu lösen und traumatisierte Selbstanteile zu integrieren – nicht mit Druck, sondern mit Würde und Geduld.


Was du selbst tun kannst




Abschlussgedanke – Vom Überleben ins Leben


Innere Getriebenheit ist kein individuelles Problem. Sie ist Ausdruck einer doppelten Anpassungsleistung:


  • an neurologische Besonderheiten (wie ADHS)

  • und an biografisch bedingte Überlebensmuster (wie bei Trauma).


Die gute Nachricht: Beides ist veränderbar. Nicht durch Zwang – sondern durch Beziehung, Wissen, Körperarbeit und neue Erfahrung.


„Ich muss nicht mehr alles sofort machen. Ich darf jetzt fühlen, was ich brauche. Und ich darf es langsam angehen.“


Ziel ist nicht Selbstoptimierung, sondern ein neues inneres Zuhause.

Eines, in dem Klarheit, Selbstfreundlichkeit und Ruhe möglich sind.

Ein Nervensystem, das nicht mehr nur auf Überleben programmiert ist – sondern auf Leben.




 
 
 

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