top of page

Wie man mit Parentifizierung in der Geschichte konstruktiv umgehen kann- ein lohnender Heilungsprozess

  • sibyllefuenfstueck
  • 17. März
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Apr.

Den Drang abzustreifen, überall und jederzeit für andere da zu sein, sich ihrer Gefühle und anzunehmen und ihnen Pflichten und Aufgaben aller Art abnehmen, ist alles andere als leicht.

Als von Parentifizierung betroffene Kinder war es eine existentielle Notwendigkeit für uns, uns einzumischen. Wir mussten die psychische und physische Verfassung unserer instabilen oder überforderten Eltern überwachen und ihre Gefühle regulieren, damit sie halbwegs funktionstüchtig waren und unsere grundlegenden Bedürfnis nach Beziehung und Sicherheit so gut wie eben möglich befriedigen konnten. Oft genug haben wir erfahren, wie bedrohlich es sich anfühlt, wenn diese elementaren Bedürfnisse immer wieder oder aber dauerhaft unbefriedigt blieben.





Wie also können wir aus diesen existentiellen Prägungen herausheilen?


Zunächst ist es wichtig, dass wir ein Verständnis dafür entwickeln, was uns als Kind widerfahren ist und was das genau für unsere Entwicklung bedeutet hat; auf physischer, kognitiver, emotionaler und auf der Bindungsebene. Oft fällt es Betroffenen schwer, sich einzugestehen, dass die Rolle, die sie in ihrer Kindheit eingenommen haben, nicht angemessen sondern hochgradig destruktiv war, denn wir neigen dazu, unsere Kindheit von der Warte eines Erwachsenen heraus, mit all unseren heutigen Erfahrungen und Ressourcen, zu beurteilen und erlebte Vernachlässigung und Parentifizierung herunterzuspielen. Wichtig ist hier, dass wir lernen, mit den Augen eines Kindes zurückzublicken, es wirklich zuzulassen, zu erleben und zu verstehen, was es damals für uns bedeutet hat, so früh erwachsen werden zu müssen.


Wenn wir verstanden haben, was wir in der Kindheit erlitten aber auch geleistet haben, können wir beginnen, uns wohlwollend und liebevoll zu beobachten. Welche Muster haben wir in unserer Kindheit gelernt? Welche Glaubenssätze haben wir aus unseren Erfahrungen abgeleitet? Welche eingeprägten Reaktionsweisen wiederholen wir im Hier und Jetzt wieder im Alltag, in unserem Job, in unseren nahen Beziehungen? Wir wollen hier eine ehrliche Inventur durchführen und überlegen, welche Verhaltensweisen wir auch heute noch in einem solchen Umfang ausführen, dass sie uns nachhaltig behindern oder erschöpfen.



Welche Muster prägen auch heute noch unsere Beziehungen?

Fällt es dir etwa immer noch schwer, um Hilfe zu fragen? Vertraust du anderen Menschen nicht, dass sie für dich da sind, wenn du sie brauchst? Hast du nach wie vor Schwierigkeiten, andere Menschen für sich selbst sorgen zu lassen, weil du davon ausgehst, dass sie es allein nicht schaffen? Wenn wir hier einmal verstanden haben, welche Überzeugungen und Muster wir auf emotionaler, kognitiver und Verhaltensmuster erworben haben, können wir beginnen, uns nach und nach dabei zu unterstützen, neue Muster und Verhaltensweisen zu entwickeln. Das ist eine große und herausfordernde Aufgabe. Denn wenn wir stets die Helfer oder Retter in unseren Beziehungen waren und nun von dieser Rolle zurücktreten wollen, werden wir es sehr wahrscheinlich mit starken Angst- und Schuldgefühlen zu tun bekommen. Wir werden hier Unterstützung brauchen und dürfen geduldig mit uns sein.


Ein wichtige neue Kompetenz, die wir nach und nach aufbauen dürfen, ist die Fähigkeit, gesunde Grenzen zu setzen. Zu erfahren und verinnerlichen, wo man selbst aufhört und ein anderer beginnt. Was wir kontrollieren können und was nicht. Was wir selbst brauchen. Wo wir Verhandlungsspielraum lassen wollen und wo wir auf unsere Bedürfnisse bestehen. Wie wir in intimen Beziehungen auftreten. Wie wir hier unsere Ja´s und unsere Nein´s anbringen und verteidigen.


Jeder noch so kleine Versuch, neue Grenzen zu etablieren, zählt hier. So können wir damit beginnen, einmal nicht direkt auf die Wünsche oder Forderungen anderen einzusteigen, mal nicht sofort zu reagieren, sondern innezuhalten und in uns spüren. Zwischen Anfrage und Reaktion eine Pause zuzulassen. Die aufsteigende Unruhe und Schuldgefühle aushalten zu lernen. Jeder noch so kleine Schritt ist ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstbehauptung und Selbstermächtigung. Jeder noch so kleine Schritt legt neue Bahnen in unserem Gehirn an und gibt unserem Nervensystem zu verstehen, dass wir es aushalten können, wenn wir mal nein sagen, dass nichts Schlimmes passiert, wenn wir unsere Grenzen verteidigen. Das alles ist Übungssache. Wir beginnen im Kleinen und irgendwann können wir uns auch in schwierigeren Situationen behaupten.



Welche Trigger aktiviert unseren Drang, zu helfen?

Es ist außerdem hilfreich, wenn wir überlegen, durch welche Trigger unser Retter- oder Helfer-Selbst aktiviert wird. Was muss passieren, damit du dich selbst vergisst und in den Dienst anderer stellst? In welchen Situationen spürst du Groll auf andere, weil du annimmst, für sie verantwortlich zu sein? Vielleicht haben wir längst beschlossen, dass wir nicht mehr für andere Sorge tragen wollen, aber dann passiert etwas und wir spüren diesen regelrechten Zwang, der uns zurück in die Rolle des Helfers zieht. Vermutlich ist sich die andere Person nicht einmal im Klaren darüber, dass sie uns getriggert hat, denn oftmals projizieren wir schlichtweg die alten Forderungen unserer Eltern auf Personen, mit denen wir in der Gegenwart eng verbunden sind.


Dann wollen wir Bewältigungsstrategien und Strategien der Stresstoleranz identifizieren, die uns dabei helfen können, mit diesen Triggern im gegenwärtigen Kontext produktiv umzugehen. Auf welche bereits vorhandenen Fähigkeiten können wir zurückgreifen? Wo sind Fähigkeiten ausbaufähig? Gibt es vielleicht Gefühle, die es uns besonders schwer machen, präsent und geerdet zu bleiben und was können wir tun, um diese Gefühle zu halten und besser zu regulieren? Wir wollen verhindern, dass alte Gefühle jederzeit aus den Tiefen unserer impliziten und expliziten Erinnerungen hochtreiben und dann unseren Alltag kontrollieren, vielmehr wollen wir sie als Hinweis dafür verstehen, dass bestimmte Bedürfnisse verletzt wurden oder befriedigt werden wollen.




Eine nährende Beziehung zu inneren Kind-Anteilen aufbauen


Eine wichtige und schöne Aufgabe ist es, Kontakt zu unserem inneren, verletzten Kind aufzunehmen. Wir alle haben einen oder mehrere verletzte, junge innere Anteile in uns, die wie in der Zeit festgefroren sind und deren Wunden nach wie vor in unserem Leben wirken. Manche nennen diese Anteile Introjekte, andere innere Kind-Anteile. Egal, welches Konzept uns hier am nächsten steht, Fakt ist, dass diese inneren Anteile niemals richtig beeltert und versorgt wurden und dass sie noch immer in der großen Bedürftigkeit und der inneren Not feststecken, die sie damals erlebt haben.


Auch hier wollen wir achtsam nach möglichen Trigger schauen. Es kann immer wieder Situationen geben, die uns an Gegebenheiten in unserer Kindheit erinnern und dann gewissermaßen den Schalter umlegen. Wir werden in der Zeit zurückgeworfen, agieren dann vielleicht wie ein 6jähriges Kind, bekommen einen Wutanfall oder erleben überwältigende Angst vor Vernachlässigung oder dem Verlassenwerden. Jetzt haben wir die Chance, diese Anteile mit all ihren unerfüllten Bedürfnissen, ihren Ängsten, der Einsamkeit, aber auch ihren enormen Leistungen und ihrem Mut zu sehen und ihnen dabei helfen, endlich gehört zu werden, ihren Mangel auszugleichen und sie geduldig und liebevoll nachreifen zu lassen.


Eine Frau, die in einer Yogaklasse Akzeptanz lernt, um ihre Parentifizierung aufzulösen
Achtsamkeit hilft dabei, innezuhalten und sich zu fragen, welche Bedürfnisse im gegenwärtigen Moment gerade auf Erfüllung drängen und macht sensibler für feine innere Signale.

Eine schöne Übung ist es, sich ein Tagebuch zu schnappen und all das, was wir in unserer Kindheit erlebt haben, mit der Stimme des kleinen Wesens in uns aufzuschreiben. Aufzuschreiben, was uns widerfahren ist, was wir brauchten und wo wir Schwierigkeiten erlebt haben. Wenn wir diese Aufgabe beendet haben, schreiben wir dem inneren Kind zurück und zwar aus der Position der idealen, liebevollen Mutter (oder des Vaters) heraus. Was würde eine liebevolle Mutter einem Kind antworten, das eine solche Geschichte mit ihr teilt? Wie würde sie auf seine Verletzungen und seinen Schmerz reagieren? Sie würde die Gefühle des Kindes validieren, ihm mitteilen, wie sehr es ihr leidtut, was da geschehen ist und ihm versichern, dass sie alles in ihrer Macht stehende dafür tun wird, dem Kind bei der Heilung seiner Wunden zu helfen und es vor weiterem Leid zu schützen.


Diese liebevolle innere Mutter zu internalisieren, kann zu einer weiteren schönen Aufgabe für uns werden. Ihr fürsorglicher, liebender Einfluss zeigt sich dann darin, wie wir unser Leben ausrichten, wie wir mit uns selbst sprechen, wir wir mit der Welt interagieren, uns in Beziehungen zeigen, wie wir Grenzen setzen, mit uns selbst umgehen und so viel mehr. Hierzu gehört auch, sich fürsorglich zu behandeln und für das eigene physische und emotionale Wohlbefinden zu sorgen, ähnlich wie es ein guter Elternteil tun würde. Ungelöste Traumatisierung, Bindungsverletzungen und unser hypervigilantes autonomes Nervensystem auszuheilen und uns dafür die nötige therapeutische Hilfe zu suchen. Es bedeutet auch, einen gesunden Selbstwert aufzubauen und einstmals unbefriedigte Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen. Für unsere Sicherheit zu sorgen – in Beziehungen, im beruflichen Kontext, im Wohnumfeld, im Umgang mit uns selbst. Aus dieser liebevollen und achtsamen Haltung heraus fällt es uns leichter, all diese wichtige Ressourcen aufzubauen und jene Fähigkeiten zu entwickeln, die uns dabei unterstützen, unsere Heilung langfristig voranzutreiben.




Psychotherapie kann helfen, die nicht gelebte Kindheit zu betrauen


Eine liebevolle innere Mutter weiß, welche Fähigkeiten ihr Kind in welchem Alter benötigt, um sich gesund zu entwickeln. Sogenannte Reparenting-Skills helfen uns dabei, inneren Ressourcen zu entwickeln und bisher unerfüllte Entwicklungsaufgaben nachzuholen. Diese Skills können für jeden anders aussehen und anderen Zielen dienen. Für manche bestehen sie darin, besser Grenzen setzen zu lernen, für andere heißt es, die ständige Angst zu beruhigen und Bewältigungsstrategien zu erlernen, oder es ist an der Zeit, sich endlich Hilfe zu holen und eine Therapie in Anspruch zu nehmen.


Eine fürsorgliche Mutter unterstützt ihr Kind auch dabei, zu trauern und gibt ihm Halt auf dem Weg durch den Trauerprozess. Und es gibt viel zu betrauern. Wenn Parentifizierung in unserem Leben eine Rolle gespielt hat, dann konnten wir vielleicht einen großen Teil unserer Kindheit nicht Kind sein. Wir wissen nicht, wie es ist, einfach zu sein, zu spielen, zu tagträumen, uns zu finden. Und das ist einfach enorm traurig und darf auch betrauert werden. Vielleicht magst du einmal in dich lauschen und hören, welche Bedürfnisse in deiner Kindheit keinen Platz haben durften. Und du könntest dich fragen, wie du deinen inneren Kindanteilen heute etwas gutes tun kannst. Wenn dir Parentifizierung passiert ist, hast du dein ganzes Mitgefühl und jede Unterstützung verdient. Wir können besonders wohlwollend und liebevoll mit uns sein für das, was wir als kleiner Mensch alles geleistet haben und dafür, dass wir so tapfer und auch kreativ dabei waren, immer wieder neue Strategien zu ersinnen, um uns möglichst gut an unser Umfeld und die Erfordernisse anzupassen.


Eine mitfühlende, liebevolle Mutter weiß nicht zuletzt, dass es nicht immer nur um so schwere Themen, um Aufgaben, um Trauern und Verarbeiten gehen kann. Sie weiß, dass es mindestens genauso wichtig ist, die Schwere immer wieder auch zu begrenzen und die Fähigkeit zu kultivieren, zu spielen und präsent zu sein. Sie ermutigt ihr Kind, imperfekt zu sein, sich schmutzig zu machen, die Dinge mit neugierigen, wachen Augen neu zu entdecken, albern zu sein, mal nur an sich selbst zu denken. Wenn wir nicht wissen, was genau uns und unserem inneren Kind gefallen könnte, weil wir nie die Chance hatten, uns selbst auszuprobieren, dann ist es jetzt an der Zeit, genau das zu tun. Was tut uns gut, was macht uns Spaß, wobei können wir abschalten? Jeden Tag können wir ein bisschen Zeit reservieren für alle die Aktivitäten, für die es bisher nie die Zeit gab.


Und noch einmal: Du musst den Heilungsprozess nicht allein bewältigen. Schau dich nach Hilfe und Hilfreichem um; in deinem Inneren, aber vor allem auch im Außen. Wende dich deinen inneren Kindern zu und erlaube es dir, es nicht allein schaffen zu müssen.

Kommentare


bottom of page