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Das parentifizierte Kind und die verinnerlichte Helferrolle

  • sibyllefuenfstueck
  • 13. März
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Apr.

In einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung ist der Erwachsene in der Lage, auf die physischen und emotionalen Bedürfnisse seines Kindes angemessen einzugehen. Mit der Zeit entwickelt das Kind dadurch die Fähigkeit, seine eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. Diese Fähigkeit führt mit der Zeit dazu, dass das Kind einen Sinn dafür entwickelt, wer es wirklich ist, wie es tickt, was es braucht, um sich erfüllt zu fühlen und wie es in der Welt aufzutreten hat, um möglichst viele seiner Bedürfnisse befriedigt zu bekommen.


Manchen Eltern gelingt es nur unzureichend, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und adäquat zu beantworten. Oder sie sind überhaupt nicht in der Lage, sich um ihr Kind zu kümmern, weil ihnen die inneren Ressourcen fehlen, weil sie psychisch erkrankt, abhängig von Drogen, Medikamenten oder Alkohol oder physisch abwendend sind.


Bei der sogenannten Parentifizierung kommt es aus dieser Not heraus zu einem Rollentausch. Hier wird das parentifizierte Kind entweder offen in die Rolle eines Erwachsenen gedrängt oder es sieht sich schlichtweg genötigt, die Rolle eines Elternteils einzunehmen, um die Familie zu stabilisieren und damit die Bedingungen für die eigene Entwicklung zu verbessern. Für das Kind kann das bedeuten, sich um die emotionalen Bedürfnisse der Familienmitglieder zu kümmern, elterliche Pflichten im Haushalt zu übernehmen, Streits zwischen den Eltern zu schlichten, zwischen ihnen zu vermitteln, finanziell auszuhelfen, Geschwister zu beeltern und vieles mehr. In jedem Fall kompensiert es für all das, was die eigenen Eltern selbst nicht leisten können.


Das Ziel des Kindes, das die elterlichen Aufgaben übernimmt, ist es, seinen Eltern die nötige Kapazität und Stabilität für die Versorgung ihrer Kinder zu verleihen. Oft erhofft sich das Kind von seiner Hilfe auch, dass es die Wertschätzung, den Schutz und die Zuwendung erfährt, die es so sehr braucht. Was es dafür hergibt, ist seine Kindheit und das Recht auf eine selbst gewählte Identität. Parantifizierung bedeutet immer eine Einschränkung einer normalen, kindlichen Entwicklung und ist daher eine Form des Entwicklungstraumas.


Besonders gravierend wirkt sich die emotionale Parentifizierung auf die Entwicklung des Kindes aus. Hierzu kommt es, wenn Kinder die Belastung ihrer Eltern spüren und ihre Auswirkungen erleben. Oft handelt es sich um Eltern, die selbst traumatisiert sind, in toxischen Beziehungen leben, sich selbst nicht gut abgrenzen können, alleinerziehend und dabei überfordert oder psychisch erkrankt sind.


Kinder derartig überforderter Eltern versuchen zum einen, nicht zusätzlich zu Last zu fallen und zeigen sich besonders brav, angepasst und unterstützend. Dann sind sie nicht selten für den emotionalen Ballast ihrer Eltern da, hören sich ihre Belastungen, Klagen, Sorgen und Traumatisierungen an, versuchen Rat und Trost zu spenden, aufzubauen oder abzulenken. Kommt es zur Trennung, finden sie sich außerdem häufig als Streitschlichter, Vermittler oder Verbündete wieder. Oft müssen sie in diesem Fall Partei für eine Seite ergreifen, was sie in starke Loyalitätskonflikte stürzt. Zu all dem fühlen sie sich aus der Not heraus verpflichtet und halten diese Form der Hilfe und Selbstaufgabe oft auch für ein Zeichen ihrer Verbundenheit und Liebe. Wenn Kinder fortwährend die Emotionen ihrer Bezugspersonen regulieren müssen, geraten sie unweigerlich in Dauerstress. Sie sind rund um die Uhr wachsam, weil sie die Befindlichkeiten ihrer Eltern ständig im Blick behalten und antizipieren müssen, wie, wann und wodurch diese dysreguliert werden könnten. Sie stehen permanent unter Druck, weil sie etwas erreichen wollen, was eigentlich nicht erreichbar ist und können sich nie fallenlassen oder abschalten, was gravierende psychische Probleme im Erwachsenenalter nach sich ziehen kann. Kinder, die emotional funktionalisiert werden, entwickeln mit der Zeit das Gefühl, dass nur sie selbst in der Lage sind, die Eltern wieder aufzufangen und zu stabilisieren und dass ohne ihr Einschreiten alles noch viel schlimmer werden würde. Ein Kind, das so groß wird, entwickelt also auch eine Art grandioses Bild von sich selbst, seiner Bedeutung und seiner Möglichkeit der Einflussnahme. Gleichzeitig kommt es jedoch auch zu starker Selbstverleugnung und Selbstabwertung, weil es die Eltern dann am Ende des Tages doch nicht retten kann.


Wann immer sich ein Kind im grandiosen Modus befindet, ist es durch die erfahrene Rollenumkehr auf übergriffiges Verhalten und ständigem Einmischen und Kontrollieren programmiert. Befindet es sich im Modus der Selbstabwertung, erlebt es hingegen starke Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit, denn es erfährt immer wieder, dass es sich so sehr anstrengen kann, wie es will; es kann das Schicksal und die Gefühle anderer Menschen nicht kontrollieren. Dazu kommt das schlechte Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, die der andauernden Vernachlässigung des Kindes und der Tatsache geschuldet sind, dass es von früh auf darauf programmiert wurde, leise, unsichtbar und frei von eigenen Forderungen und Ansprüche zu sein.


Um die genannte Retterphantasie und das zwangsläufige Scheitern in seiner zugedachten Retterrolle entwickelt es sein Selbstbild bzw. Selbstkonzept. Helfen und Kümmern, der Hyperfokus auf die emotionale Verfassung enger Bezugspersonen und das dringende Bedürfnis, gebraucht zu werden, werden zur eigenen Identität.Und genau das macht die Parentifizierung zum Entwicklungstrauma. Es ist nicht das Kind, das sein Selbst entwickelt. Es ist das Außen, das seine Identität definiert und sich an dieser Identität, an diesem selbstlosen Selbst, bedient, wie es mag. Das wirkt zutiefst traumatisierend und destabilisierend.


Wenn Kinder keine Kinder sein dürfen, wenn sie keinen geschütztem Raum haben, in dem ihre kindlichen Bedürfnisse erfüllt werden und in dem sie nicht mit den emotionalen Problemen anderer konfrontiert werden, dann ist ihre Entwicklung gravierend gestört und wichtige Entwicklungsaufgaben bleiben ungelöst. Dazu gehört zum Beispiel die Entwicklung der Fähigkeit, sich emotional abgrenzen zu können, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu vertreten und mit den eigenen Ressourcen zu haushalten. Aber mehr dazu an späterer Stelle.


Um eins klarzustellen: Es ist nicht so, dass Kinder unbedingt die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen wollen. Aber das Gefühl, das ihnen in der Regel durchs Leben folgt, wenn sie in einer Familie mit instabilen oder unreifen Eltern groß geworden sind, ist, „wenn ich es nicht selbst mache, wird es niemand machen und etwas Schlimmes wird geschehen“. Was passiert nun aber, wenn wir selbst als Kinder in die Aufgabe hineingewachsen sind, für unsere Eltern zu sorgen? Wie prägt uns das und unsere späteren Beziehungen? Welche Muster entwickeln wir womöglich?


Wenn wir schon in sehr jungen Jahren elterliche Verantwortung übernehmen mussten, haben wir vermutlich nie einen gesunden Sinn für unser Selbst entwickeln können. Wir haben früh gelernt, unsere Konzentration nach außen auf andere zu richten und keine Verbindung zu unserer Innenwelt, unserer Befindlichkeit und den eigenen Bedürfnissen aufgebaut. Wir haben keine Vorstellung davon entwickelt, wer wir im Kern sind, was wir brauchen, mögen, ablehnen oder vom Leben erwarten. Als Folge davon haben wir später häufig Schwierigkeiten, wichtige Entscheidungen zu treffen oder uns auch im Alltag festzulegen und erleben uns daher immer wieder als regelrecht gelähmt und blockiert und wundern uns vielleicht, wieso wir immer wieder prokrastinieren, obwohl wir doch sonst so viel leisten können.


Leistung ist unsere Kernkompetenz. Oft haben wir aus unserer Kindheit ein starkes Pflichtgefühl mitgebracht. Wir wollen ständig für andere da sein und leben ein Leben im ständigen Funktionsmodus. Das kann sich im Beruf zeigen, in Freundschaften, in der eigenen Familie. Vielleicht finden wir uns wiederholt in Beziehungen wieder, in denen der Partner eher dazu neigt, die Verantwortung für Aufgaben und Pflichten an uns abzugeben. Oder vielleicht handelt es sich um einen Partner, der zunächst durchaus in der Lage ist, sich um sich selbst zu kümmern, der jedoch nach und nach in die Rolle der Passivität gedrängt wird, weil er schnell realisiert, dass wir uns nur dann reguliert und in Kontrolle fühlen, wenn wir uns um jemanden kümmern können.


Wenn wir immer wieder zu viel angenommen haben und immer noch annehmen, weil wir erlebt haben, dass ein „Nein“ bedeutet, dass wir vernachlässigt oder abgelehnt werden, laufen wir außerdem Gefahr, früher oder später Depressionen, Essstörungen, physische Beschwerden wie Schmerzstörungen oder Süchte zu entwickeln. All diese Symptome können ein Bewältigungsversuch darstellen, mit der unsicheren Bindung und Zuwendung, die wir erlebt haben und der Rolle, die uns zugewiesen wurde, zurechtzukommen. Sie sind außerdem oft das Resultat chronischer Selbstvernachlässigung und Selbstausbeutung.


Selbstausbeutung und Selbstvernachlässigung wiederum gehen Hand in Hand mit dem Unvermögen, Grenzen zu setzen. Sehr wahrscheinlich gab es in unserer Familie niemanden, der uns beigebracht hat, eigenen Interessen wahrzunehmen und uns von fremden Forderungen und Ansprüchen zu distanzieren. Wir sind mit chronisch aufgeweichten oder erst gar nicht vorhandenen Grenzen zwischen den Generationen groß geworden und haben nicht erfahren, wie es ist, als von unseren Eltern losgelöste Personen mit eigenem Wesen und eigener Befindlichkeit wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Auch das transportieren wir natürlich in unsere späteren Beziehungen, was uns anfällig für symbiotische, co-abhängige Verbindungen macht, in der sich die Grenzen zwischen den Individuen vollständig auflösen können. Als einstmals parentifizierte Kinder finden wir uns auch gehäuft in missbräuchlichen und ausbeuterischen Beziehungen wieder. Wir entwickeln häufiger einen ängstlich-vermeidenden, desorganisierten Bindungsstil und sind anfällig für sogenanntes Trauma-Bonding, bei dem sich Phasen der Gewalt, des Missbrauchs und der Manipulation immer wieder mit Phasen der Zuneigung abwechseln. Der Grund dafür ist, dass wir aus unserer Kindheit eine hohe Bereitschaft mitbringen, Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung zu tolerieren. Das macht uns zu idealen Partnern für instabile, manipulative und missbräuchliche Menschen, womöglich auch für Menschen mit narzisstischer, emotional instabiler oder antisozialer Persönlichkeitsstörung. Unser unsicherer Bindungsstil, gepaart mit dem tiefen Mangel an Fürsorge, Liebe und Zuwendung in unserer Kindheit, sorgen dafür, dass wir uns nach Liebe und Zuwendung sehnen, aber gleichzeitig Vernachlässigung fürchten. Wenn es in unseren Beziehungen kriselt oder wir schlichtweg wiederholten Missbrauch erleben, dann denken wir, dass wir nur einfach stärker investieren und uns stärker anstrengen müssen, um die Dinge wieder geradezurücken. Die Angst vor Vernachlässigung oder dem Verlassenwerden kann so groß sein, dass wir alles hinnehmen, nur um das Grauen dieser Erfahrungen nie wieder erleben zu müssen.


Für uns ist all das normal, denn es ist das Modell, das wir vorgelebt bekommen haben. In Beziehung treten hat für uns immer auch mit Fürsorge und der Übernahme von Verantwortung zu tun. Das ist unser Beziehungsmuster. Wir haben nie gelernt, in uns zu hören und zu ergründen, was wir fühlen, was uns wichtig ist, diese Erkenntnisse mit jemandem zu teilen und darüber eine gleichberechtigte Beziehung mit einem anderen Menschen zu formen, in der jeder für sich weiter existiert und man gemeinsam dazu beiträgt, den Beziehungsraum mit Leben zu füllen. Es ist für uns ein Zeichen der Liebe oder Zuneigung, wenn wir uns selbst für einen anderen aufgeben.


Versuchen wir immerzu die Gedanken und Gefühle unserer Mitmenschen zu lesen und deren Konsequenzen zu verstehen, können wir Gemeinschaft nie einfach nur genießen. Dieses automatisierte Überwachen der Gefühle und Stimmungen anderer führt zu ständiger Wachsamkeit und Anspannung und ist damit ein wahrer Kraftakt. Manch einer zieht dann den Schluss, dass es leichter ist, Kontakte aufs Nötigste zu begrenzen. Soziale Isolierung ist also auch eine der möglichen Konsequenzen, mit denen wir uns konfrontiert sehen können. Außerdem sind wir kaum in der Lage, wirklich präsent zu sein und unsere Umgebung realistisch wahrzunehmen, wenn wir ständig auf mögliche Stimmungswechsel und mögliche Implikationen für unser Handeln fixiert sind.


Als frühreife Kinder sind wir außerdem über die Maße unabhängig und selbstständig und scheuen uns davor, auf andere angewiesen zu sein. Nach Hilfe fragen oder Verantwortung abgeben fällt uns ungemein schwer, was uns für Erschöpfung und Burnout prädestiniert. Wir haben Angst vor Verstrickung, Angst, uns verletzlich zu zeigen und entwickeln das Bedürfnis, uns vor dem Einfluss anderer zu schützen. Weil wir immer wieder mit Beziehungsabbrüchen erlebt oder instabile, chaotischer Bindungserfahrungen gemacht haben, entwickeln außerdem häufig ein tiefes Gefühl von Misstrauen, von Scham und persönlicher Schuld, was uns dann später in Beziehungen von der Verbindung mit anderen Menschen abschneiden kann.


Als letzte Folge erlebter Parentifizierung möchte ich die Wut auf andere Menschen und uns selbst nennen. Diese Wut kann lange unterdrückt sein und sich dann in körperlichen Symptomen zeigen. Eigentlich ist Aggression im Zusammenhang mit Parentifizierung ein sehr sinnvolles Gefühl, zeigt sie uns doch an, dass wir Grenzüberschreitungen erfahren und mobilisiert uns dazu, den eigenen Raum zu verteidigen. Da wir genau das nie gelernt haben, kann die eigentlich hilfreiche Aggression nicht abgebaut werden und es kommt zur Akkumulation von destruktiver Wut. Auch große Ängste und Konfliktscheue sind typisch, da wir uns permanent überfordert und doch in der Verantwortung fühlen.


All das sind also mögliche Muster, die aus einer frühen Rollenumkehr zwischen den Generationen erwachsen können. Wenn du an dieser Stelle wissen willst, wie du konstruktiv mit Parentifizierung in der eigenen Geschichte umgehen kannst, lies meinen neuen Blog zum Thema.

 
 
 

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