Warum narzisstische Beziehungen so fesseln - und so tief verletzen
- sibyllefuenfstueck
- 11. Mai
- 11 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 5 Tagen
Psychodynamik, emotionale Abhängigkeit und der lange Weg zurück zu sich selbst

Wenn Nähe sich wie Rettung anfühlt - und doch zerstörerisch wirkt
Sie beginnt oft wie ein Wunder: diese Beziehung, die sich anders anfühlt als alles zuvor. Intensiv. Vertraut. Fast magisch. Es ist, als würde man endlich gesehen werden – vollständig, in seiner Tiefe erkannt. Anfangs scheint alles leicht. Verständigung geschieht ohne Worte, Anziehung ist unausweichlich. Man spürt: „Jetzt bin ich angekommen.“
Doch schon bald schleicht sich etwas anderes ein. Unerklärliche Distanzen. Kritische Bemerkungen. Rückzüge. Das warme Licht der Anfangszeit wird diffuser – und doch kann man nicht gehen. Warum ist das so?
Narzisstische Beziehungen folgen oft einem psychodynamischen Drehbuch, das tiefer reicht als der bewusste Verstand. Es sind nicht nur Persönlichkeitsmerkmale, die hier aufeinandertreffen – sondern oft zwei unbewusste Welten voller Sehnsucht, Verletzung und unerfüllter Bedürfnisse. Besonders eindrücklich hat das der Psychologieprofessor Sam Vaknin beschrieben. Seine Modelle von "Shared Fantasy" und "Dual Mothership2 zeigen, wie eine toxische Beziehungsdynamik entsteht, die beide Partner tief bindet – und gleichzeitig zermürbt.
In diesem Artikel lade ich dich ein, die innere Logik solcher Beziehungen zu verstehen:
Was treibt einen Narzissten wirklich an? Was sucht er im anderen – und was bringt der andere mit, um sich auf diese Dynamik einzulassen? Was geschieht auf der Ebene des Nervensystems, der Bindung und des Selbstwertgefühls?
1. Der magische Beginn – Wenn Nähe sich wie Erlösung anfühlt
Zu Beginn einer narzisstischen Beziehung ist alles Überhöhung. Betroffene berichten von intensiver Nähe, Aufmerksamkeit, Bewunderung – als würde ihr Innerstes endlich gespiegelt. Diese Anfangsphase wird oft als „Love Bombing“ bezeichnet, doch sie ist mehr als nur Manipulation: Sie ist Teil einer psychologischen Fantasie, in der beide Partner glauben, etwas Einzigartiges gefunden zu haben.
Was in dieser Phase geschieht:
Der Narzisst sieht im anderen eine perfekte Spiegelung seines idealisierten Selbst.
Der Partner erlebt sich durch die Bewunderung plötzlich wertvoll, bedeutungsvoll, gewollt.
Beide verlieren sich in einer Verschmelzung, die sich wie Heilung anfühlt.
Der Narzisst „braucht“ diese Phase – sie hilft ihm, die eigene innere Leere zu überdecken. Für kurze Zeit scheint alles stabil: Das eigene Selbstbild ist grandios, weil es durch den Partner bestätigt wird. Sam Vaknin beschreibt dies als Beginn der Shared Fantasy – eine gemeinsame Illusion, in der der Partner zur Quelle bedingungsloser Liebe wird.
Auch der/die Partner:in bringt häufig eigene Verletzungen mit. Die tiefe Resonanz in dieser Anfangsphase berührt oft alte, unerfüllte Sehnsüchte: „Endlich bin ich wichtig. Endlich liebt mich jemand so, wie ich es immer gebraucht hätte.“
Doch diese Phase ist nicht stabil – sie ist eine emotionale Hochglanzkulisse. Und sie wird früher oder später einbrechen.
2. Der narzisstische Beziehungspartner: Auf der Suche nach der verlorenen Mutter
Der Begriff „Narzissten“ wird heute oft vorschnell verwendet – doch hinter narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen verbergen sich tiefgreifende psychodynamische Prozesse. Wer wirklich verstehen möchte, was in narzisstischen Beziehungen geschieht, muss sich mit dem Innenleben des Narzissten auseinandersetzen. Kaum jemand hat dies so eindringlich beschrieben wie der Psychologe Sam Vaknin.
Das grandiose Selbst – ein Schutzschild gegen innere Leere
Narzisstische Personen wirken oft selbstbewusst, überlegen, kontrolliert. Doch unter dieser Fassade liegt ein fragiles Selbstwertgefühl, das wie ein Kartenhaus zusammenbrechen kann, sobald es nicht gespiegelt oder bestätigt wird. Vaknin beschreibt dies als falsches Selbst: eine glänzende Fassade, die das wahre, verunsicherte Selbst verdeckt – entstanden aus Kindheitserfahrungen von Entwertung, emotionaler Kälte oder instabiler Bindung.
Das Kind, das nicht gesehen wurde, erschafft ein Idealbild von sich selbst – und braucht später andere Menschen, um dieses Bild aufrechtzuerhalten. Der Partner wird zur Projektionsfläche, zur Quelle narzisstischer Nahrung. Was anfangs wie Liebe wirkt, ist oft die Suche nach einem sicheren Hafen, nach einer „Mutter“, die bedingungslos liebt – und das idealisierte Selbstbild spiegelt.
Die Mutter im Gegenüber – das „Dual Mothership“
Hier setzt Vaknins Theorie des Dual Mothership an: Der Narzisst sucht nicht nur einen Partner, sondern ein Spiegelbild seiner idealisierten Mutterfigur. Er sehnt sich nach Versorgung, Anerkennung, Verschmelzung – nach einem Gegenüber, das die eigene Existenz reguliert. Doch zugleich verachtet er diese Abhängigkeit, was zu einem paradoxen Verhalten führt: Nähe wird gesucht und gleichzeitig abgewertet.
In vielen Beziehungen mit Narzissten übernehmen beide Partner unbewusst diese Rollen. Der Narzisst wird zum Kind, der geliebt werden will – dann zum strafenden Elternteil. Der Partner wechselt zwischen der Rolle des nährenden Elternteils und dem verletzten Kind, das um Liebe ringt.
Diese Dynamik ist nicht bewusst – aber sie bindet. Und sie erschüttert tief, weil sie eine emotionale Realität erschafft, in der beide ihre tiefsten Wunden reinszenieren. Die Beziehung wird zur Bühne für eine unerlöste Vergangenheit.
Warum ausgerechnet ich - die andere Seite der Dynamik
Viele Betroffene stellen sich irgendwann diese Frage: Warum bin ich so tief hineingeraten – und warum konnte ich mich nicht früher lösen? Die Antwort liegt selten im Hier und Jetzt. Viel häufiger wurzelt sie in frühen Beziehungserfahrungen, die tief im Nervensystem verankert sind.
Wer in seiner Kindheit erlebt hat, dass Liebe unzuverlässig, widersprüchlich oder an Bedingungen geknüpft war, entwickelt unbewusst ein Bindungsmuster, das genau diese Dynamik reproduziert: Ich muss kämpfen, um geliebt zu werden. Ich muss mich anpassen, um bleiben zu dürfen.
Der narzisstische Partner „fühlt sich“ anfangs oft vertraut – nicht, weil er gut ist, sondern weil das emotionale Terrain bekannt ist. Die Idealisierung durch ihn weckt das alte Bedürfnis, endlich gesehen zu werden. Doch sobald Rückzug, Entwertung oder emotionale Kälte einsetzen, springt das biografisch verankerte Bindungssystem an: Ich bleibe – und hoffe, es wird wieder gut.
Was der Bindungspartner des narzisstischen Partners häufig sucht
So sehr Betroffene sich auch als Opfer der Beziehung erleben – in den meisten Fällen gibt es unbewusste Motive, die sie in dieser Konstellation halten. Es geht nicht um Schuld, sondern um alte Strategien, mit Mangel, Unsicherheit und dem Wunsch nach Bedeutung umzugehen. Diese Muster wirken tief – und sie greifen besonders dann, wenn die andere Person widersprüchlich, ambivalent oder unerreichbar ist.
Viele nicht-narzisstische Partner suchen in der Beziehung nicht nur Nähe – sie suchen eine emotionale Wiederherstellung ihres Selbstwertgefühls. Nicht selten gibt es eine kindliche Überzeugung: Wenn ich nur gut genug bin, wird man bleiben. Wenn ich stark, loyal oder geduldig genug bin, wird endlich jemand erkennen, wie liebenswert ich bin. Diese Hoffnung wirkt wie ein innerer Auftrag – und sie verwandelt sich in eine stille Selbstaufgabe.
Was dabei oft übersehen wird: Die Fixierung auf den narzisstischen Partner schützt vor etwas anderem – vor der Konfrontation mit sich selbst.
Wer sich ganz dem anderen widmet, muss sich nicht fragen: Was brauche ich wirklich? Was würde passieren, wenn ich allein wäre? Was in mir fühlt sich so leer, dass ich es mit Drama füllen muss?
Diese Fragen sind schmerzhaft – aber sie sind der Schlüssel. Denn solange der eigene Selbstwert davon abhängt, ob ein anderer bleibt, bleibt auch das eigene Leben fremdbestimmt.
4. Die verschmolzene Welt – Wenn zwei innere Kinder sich finden
In einer narzisstischen Beziehung wirken beide Partner wie magisch voneinander angezogen. Diese Anziehung ist selten bewusst – sie wurzelt in tiefen, unbewältigten Beziehungserfahrungen. Was nach Liebe aussieht, ist oft ein psychodynamisches Bündnis zweier verletzter innerer Kinder, die einander retten wollen – und sich dabei gegenseitig verlieren.
Die Shared Fantasy – eine Welt, in der alles heilen soll
Sam Vaknin beschreibt dieses Phänomen als Shared Fantasy: eine gemeinsame Illusion, in der beide Partner idealisierte Rollen einnehmen. Der Narzisst konstruiert eine Welt, in der er perfekt erscheinen darf – stark, charmant, überlegen. Der Partner wird zur idealen Mutterfigur, zur Spiegelquelle, zur bedingungslos Liebenden.
Doch auch der Partner hat in dieser Fantasie einen inneren Vertrag geschlossen: Wenn ich nur stark genug liebe, werde ich endlich gebraucht. Wenn ich bleibe, wird sich der andere verändern. Beide klammern sich an ein Bild, das aus tiefer Bedürftigkeit geboren wurde – nicht aus realer Verbindung.
Der narzisstische Tanz: Nähe – Rückzug – Strafe – Versöhnung
Die Beziehung folgt oft einem zyklischen Muster:
1. Verschmelzung: intensive Nähe, Idealisierung, Euphorie
2. Rückzug: emotionale Distanz, Entwertung, Schweigen
3. Strafe: Vorwürfe, Kälte, Schuldumkehr
4. Versöhnung: Reue, Charme, neue Hoffnung
Dieser Zyklus kann sich über Monate oder Jahre wiederholen – und wirkt wie eine emotionale Sucht. Jeder Bruch scheint durch Nähe zu heilen, jeder Schmerz durch neue Hoffnung überdeckt.
Zwei Nervensysteme in Daueralarm
Diese Dynamik ist nicht nur psychisch belastend – sie ist auch körperlich spürbar.
Beide Partner leben in einem Zustand chronischer Aktivierung:
Das Bindungssystem ist permanent „an“, auf der Suche nach Sicherheit.
Das Nervensystem schaltet in Überlebensmodi: Kampf, Flucht, Erstarrung oder Fawning.
Dissoziation, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und psychosomatische Beschwerden sind häufige Folgen.
Die Beziehung wird zum Biotop der alten Verletzungen. Und während der Narzisst um sein grandioses Selbstbild kämpft, verliert der Partner sich selbst in der Hoffnung, „genug zu sein“.
5. Trauma trifft Trauma – Zwei Nervensysteme im Ausnahmezustand
Narzisstische Beziehungen wirken nach außen oft wie ein unlösbares Beziehungsdrama. Doch auf tieferer Ebene handelt es sich um eine traumatische Verstrickung zweier Systeme, die sich gegenseitig aktivieren, beruhigen, enttäuschen – und wieder neu aufladen. Was als Verbindung beginnt, wird zum Kreislauf aus Schmerz, Hoffnung und Selbstverlust.
Zwei Bindungssysteme, beide verletzt
Sowohl der narzisstische Partner als auch der nicht-narzisstische bringen Bindungsverletzungen mit. Während der Narzisst laut Sam Vaknin eine rigide Fassade zum Schutz seiner inneren Zersplitterung aufrechterhält, sucht der andere oft unbewusst nach Erlösung durch Beziehung – nach einer Wiederholung mit besserem Ausgang. Die Beziehung wird damit zu einer Bühne, auf der alte Verletzungen reinszeniert werden, ohne dass sie wirklich heilen können.
Der Narzisst kämpft gegen das Gefühl, innerlich nicht zu existieren – und nutzt Macht, Kontrolle, Abwertung, um sich zu stabilisieren.
Der Partner kämpft gegen das Gefühl, nicht liebenswert zu sein – und hofft, durch Anpassung und Hingabe Anerkennung zu gewinnen.

Shared Dysregulation – wenn Co-Regulation unmöglich ist
In gesunden Beziehungen regulieren sich Nervensysteme gegenseitig: durch Nähe, Stimme, Berührung, Verlässlichkeit. In narzisstischen Beziehungen geschieht das Gegenteil: Nähe wird unberechenbar, Sprache manipulativ, Berührung wechselhaft.
Vaknin beschreibt dieses Phänomen als emotionales Zwangssystem, in dem beide Beteiligten unbewusst aneinander gebunden bleiben – nicht trotz, sondern wegen der Dysregulation.
Typische Anzeichen dafür sind:
Körperliche Symptome: Schlafstörungen, innere Unruhe, Atemprobleme, psychosomatische Schmerzen
Kognitive Auswirkungen: Grübelschleifen, Selbstzweifel, Flashbacks, emotionale Taubheit
Verlust des Selbstgefühls: Viele Betroffene sagen Sätze wie: Ich erkenne mich selbst nicht mehr.
Wenn das Nervensystem nicht mehr zur Ruhe kommt
Das Stresssystem bleibt dauerhaft aktiviert. Der Körper ist in ständiger Alarmbereitschaft – in einer Art emotionalem Kriegszustand, der sich nicht abschalten lässt. Man fühlt sich ausgeliefert, angespannt, überfordert. Gleichzeitig ist da eine tiefe Hoffnung, dass die Beziehung irgendwann doch noch rettet, was einst zerbrochen ist.
Vaknin betont: Die Bindung bleibt so stark, weil beide Seiten in ihrer Not nicht sich selbst, sondern den anderen als Lösung erleben. Der Narzisst braucht sein Spiegelobjekt. Der Partner braucht eine Heilungsgeschichte. Beide verwechseln die Beziehung mit Identität.
6. Sam Vaknin und das Modell der Dual Mothership
Wer narzisstische Beziehungen wirklich verstehen will, muss tiefer blicken – tiefer als Diagnosen, tiefer als Verhalten. Der israelische Psychologe und Autor Sam Vaknin hat mit seinen Theorien der Shared Fantasy und des Dual Mothership ein Deutungsmodell entwickelt, das nicht nur die psychische Struktur des Narzissten beleuchtet, sondern auch die zentrale Rolle des Partners – und das, was beide in der Beziehung unbewusst reinszenieren.
Shared Fantasy – eine Illusion, die beide stabilisiert
Im Zentrum steht die Shared Fantasy: eine gemeinsame psychische Konstruktion, in der sich beide Partner gegenseitig eine Rolle zuweisen. Der Narzisst sieht im Partner eine idealisierte Mutterfigur – allwissend, spiegelnd, haltgebend. Der Partner wiederum fühlt sich gesehen, gebraucht, wichtig – oft in einer Tiefe, die früh schmerzlich gefehlt hat.
Diese Fantasie ist keine bewusste Täuschung. Sie entsteht dort, wo psychische Strukturen fehlen – wo das eigene Selbst instabil, das Bindungserleben verwundet ist. Beide stabilisieren sich aneinander: der Narzisst durch Bewunderung, der Partner durch Bedeutung.
Doch diese Konstruktion ist nicht tragfähig. Denn echte Nähe gefährdet sie – und bringt die alten Verletzungen zurück ins Spiel.
Entwertung als Ritual – der ungelöste Abgrenzungskonflikt
Was bei Sam Vaknin besonders auffällt: Er beschreibt den Rückzug des Narzissten nicht einfach als Reaktion auf Angst vor Nähe, sondern als Ritual der Autonomiegewinnung – eine Wiederholung dessen, was in der Kindheit nicht möglich war.
Der spätere Narzisst hat in der frühen Beziehung zur Mutter keine gesunde Individuation erfahren. Die Mutterfigur war zu nah, zu kontrollierend oder emotional unberechenbar – das Kind konnte sich nicht als eigenständig erleben, ohne Liebesverlust zu fürchten.
Die Folge: Das Selbst blieb brüchig. Es gab keinen inneren Raum für Autonomie – und keine klare Grenze zwischen Selbst und Objekt.
Im Erwachsenenalter wiederholt der Narzisst dieses Muster:
Er idealisiert den Partner, der nun zur Mutterfigur wird.
Sobald emotionale Nähe entsteht, spürt er dieselbe Überflutung wie damals.
Um sich „zu retten“, muss er sich zurückziehen – und den Partner entwerten.
Die Entwertung wird damit zur einzigen Möglichkeit, sich psychisch abzugrenzen.
Das Tragische daran: Diese Entwertung bringt keine echte Selbstwerdung, sondern führt zurück in einen Kreislauf von Abhängigkeit und Flucht. Der Narzisst sucht nach Autonomie – und zerstört zugleich jedes Gegenüber, an dem sie sich entfalten könnte.
Dual Mothership – Zwei innere Kinder auf der Suche
Vaknins Modell des Dual Mothership beschreibt, wie in einer solchen Beziehung beide Partner unbewusst zwischen Eltern- und Kinderrollen wechseln. Der Narzisst wird mal zum bedürftigen Kind, das umsorgt werden will – dann wieder zum strafenden Elternteil, der Kontrolle ausübt. Der Partner übernimmt ebenfalls beide Rollen: Er versucht zu stabilisieren, zu retten, dazuzugehören – und wird gleichzeitig zum enttäuschten inneren Kind, das nie wirklich in Beziehung treten darf.
Diese wechselseitige Rollenumkehr verhindert echte Entwicklung. Beide bleiben in alten Mustern verhaftet, jeder auf seine Weise – und die Beziehung wird zur Bühne einer nicht abgeschlossenen Vergangenheit.
Wenn Trennung wie ein psychischer Schock wirkt
Das Ende einer solchen Beziehung ist mehr als ein Bruch – es ist ein Identitätsverlust. Vaknin beschreibt diesen Moment als dreifachen Abschied:
1. vom idealisierten Selbstbild, das nur in Beziehung stabil war
2. vom inneren Kind, das gehofft hat, endlich gesehen zu werden
3. von der Mutterfigur, die der Partner oder die Partnerin repräsentierte
Dieser Verlust fühlt sich nicht nur traurig an – er kann traumatisch sein. Denn in der Shared Fantasy wurde nicht nur geliebt – dort wurde existiert.
Warum dieses Modell so bedeutsam ist
Vaknins Theorien ermöglichen eine neue Perspektive: nicht Täter vs. Opfer, nicht Bindungsangst vs. Abhängigkeit – sondern ein tiefes psychodynamisches Zusammenspiel zweier unbewusst gesteuerter Systeme. Wer dieses Muster erkennt, kann beginnen, sich zu entwirren – nicht durch Schuldzuweisung, sondern durch das ehrliche Fragen:
Was habe ich gesucht – und warum habe ich mich darin verloren?
7. Forschung im Fokus – Was die Wissenschaft über toxische Beziehungen sagt
Toxische Beziehungen sind mehr als ein Beziehungskonflikt – sie sind ein tiefgreifender psychobiologischer Ausnahmezustand. Neurowissenschaftliche Studien, bindungstheoretische Modelle und psychotraumatologische Erkenntnisse zeigen: Wer in einer destruktiven, narzisstisch geprägten Beziehung lebt, erlebt nicht nur emotionale Belastung – sondern häufig auch strukturelle Veränderungen im Gehirn, im Stresssystem und in der Selbstwahrnehmung.
Trauma, Bindung und das Gehirn
Studien zur emotionalen Gewalt (z. B. Bier et al., 2016) zeigen, dass chronisch destruktive Beziehungserfahrungen zu einer Überaktivierung der Amygdala führen – dem Angstzentrum im Gehirn. Gleichzeitig wird der präfrontale Kortex, zuständig für Selbstregulation und Impulskontrolle, in seiner Funktion gehemmt. Das bedeutet: Betroffene sind in toxischen Beziehungen dauerhaft in einem Zustand von Alarmbereitschaft – unfähig, sich innerlich zu beruhigen.
Diese Erkenntnisse korrespondieren mit der Beobachtung vieler Traumatherapeut:innen: Menschen in narzisstischen Beziehungen leben in einer Art emotionalem Wechselbad, das sie zugleich aktiviert und betäubt. Der Körper „merkt“, dass Gefahr besteht – doch der Geist hält an der Hoffnung fest.
Wenn Nähe zur Bedrohung wird
Judith Herman, eine der bedeutendsten Stimmen in der Traumaforschung, beschreibt in ihrem Standardwerk Trauma und Genesung, wie frühe Bindungsverletzungen zu einem paradoxen Beziehungsverhalten führen: Nähe wird einerseits gesucht, weil sie ein Grundbedürfnis darstellt – und gleichzeitig gefürchtet, weil sie mit Kontrollverlust, Scham oder Schmerz verknüpft ist.
Diese Ambivalenz zeigt sich in narzisstischen Beziehungen besonders deutlich: Der Narzisst zieht sich zurück, sobald Nähe zu verletzlich macht. Der Partner bleibt – obwohl er leidet. Beide befinden sich in einem unbewussten Konflikt zwischen Bindungssehnsucht und Selbstschutz.
Die Theorie der Wiederholung
In psychodynamischen Modellen wird dieses Verhalten als Wiederholungszwang verstanden: Der Mensch sucht sich Beziehungen, die der frühen Matrix ähneln – nicht, weil sie gut sind, sondern weil sie vertraut sind. In toxischen Beziehungen soll das alte Drama noch einmal durchlebt werden – in der Hoffnung auf ein neues, heilendes Ende.
Doch Heilung ist in dieser Konstellation selten möglich – nicht, solange beide ihre Rolle aufrechterhalten.
8. Fazit – Warum dieses Wissen so wichtig ist
Wer einmal in einer narzisstischen Beziehung war, weiß: Es ist nicht „nur“ eine ungesunde Partnerschaft. Es ist ein emotionales System aus alten Wunden, psychischen Überlebensstrategien und gegenseitiger Projektion. Es fühlt sich nicht selten an wie ein Schicksal – unausweichlich, überwältigend, zerstörerisch und zugleich unerklärlich fesselnd.
Dieser Text wollte keine einfachen Antworten liefern – sondern ein tiefes Verständnis dafür, was unter der Oberfläche geschieht:
Wie frühe Bindungserfahrungen unser Beziehungsmuster prägen
Wie zwei verletzte innere Kinder sich in einer gemeinsamen Illusion verlieren
Wie sich das Nervensystem an ein permanentes Stresslevel gewöhnt
Und wie der Verlust einer solchen Beziehung nicht nur Schmerz, sondern oft eine existentielle Leere hinterlässt
Sam Vaknins Modell der Shared Fantasy und des Dual Mothership hilft, diese Dynamik in ihrer Tiefe zu begreifen. Es erlaubt, beide Seiten zu sehen – den Narzissten mit seiner Angst vor Fragmentierung, den Partner mit seiner Hoffnung auf Erlösung – und die Beziehung als Bühne einer unbewältigten Vergangenheit.
Dieses Wissen kann der erste Schritt sein. Nicht zur Lösung – aber zur Rückgewinnung von Selbstverantwortung und innerer Klarheit.
Nicht alle Antworten müssen sofort da sein. Aber manchmal hilft es, die richtigen Fragen zu stellen.
Denn manchmal besteht Heilung nicht im Loslassen, sondern im Verstehen, warum man so lange geblieben ist.
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