Woran merke ich, dass ich von Bindungstrauma betroffen bin - Symptome von Bindungstrauma erkennen
- sibyllefuenfstueck
- 2. Jan.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Apr.
Ein Bindungstrauma entsteht, wenn wichtige Bezugspersonen nicht in der Lage sind, ihrem Kind konstante, sichere und liebevolle Beziehungen zu bieten. Erfahrungen wie Vernachlässigung, Missbrauch, Inkonsistenz in der Fürsorge oder ständige Trennungen von den Eltern beeinträchtigen die Entwicklung eines sicheren Bindungsverhaltens und können tiefgreifende Auswirkungen auf das spätere Leben und zwischenmenschliche Beziehungen haben.
Gerade Menschen, die Selbstentwicklung anstreben, die vielleicht bereits einiges an Selbsthilfeprogrammen oder auch unterschiedliche Therapie-Ansätze versucht haben und immer wieder die Erfahrung machen, dass ihre Schwierigkeiten trotz aller Bemühungen nicht besser werden, fragen sich früher oder später, ob es womöglich tieferliegende, bisher ungesehene Ursache für ihre Belastungen gibt. Andere leiden immer wieder unter Symptomen, für die sie keine plausiblen Auslöser finden, oder sie haben keine Erinnerung an gewisse Phasen ihrer Kindheit und fragen sich deshalb, ob es da vielleicht traumatische Erfahrungen gibt, die sie schlichtweg vergessen oder verdrängt haben.
Die Symptome von Beziehungstrauma und Bindungsstörungen erkennen
Symptome von Entwicklungs- bzw. Bindungstraumata können vielfältig sein und drücken sich in vielen Lebensbereichen aus. Häufig treten sie bereits in der Kindheit auf, bestehen dann bis ins Erwachsenenalter fort und können sich in späteren Jahren auch noch einmal verstärken. Einige der Symptome lassen sich zu den diagnostischen Kriterien der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) zählen, wieder andere sind nicht weniger typisch für Trauma-Folgeerscheinungen, werden jedoch nicht zu den Diagnosekriterien gezählt. Die Symptome lassen sich weiter in bestimmte Bereiche unterteilen. 1. Emotionale Symptome:
Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation: Du erlebst immer wieder Stimmungsschwankungen und hast Schwierigkeiten, Einfluss auf deine Gefühle zu nehmen. Häufig fühlst du dich regelrecht überwältigt von unkontrollierbarer Traurigkeit, Angst oder Wut, die in keinem Verhältnis zum erlebten Auslöser zu stehen scheinen.
Emotionale Taubheit: Du fühlst dich von deinen Gefühlen abgeschnitten, taub und leblos. Man spricht in diesem Fall auch von emotionalem "Numbing". Dies ist eigentlich eine sehr sinnvolle Anpassung an die Umstände, die wir in einer Zeit erlebt haben, in der wir noch nicht in der Lage waren, starke Emotionen selbstständig zu halten und zu regulieren, in der also unsere Fähigkeit des Containment noch nicht ausgebildet war.
Chronisches Gefühl der Angst, Sorge und Unsicherheit. Du lebst mit dem Gefühl der ständigen Bedrohung oder Unsicherheit und bist dadurch deutlich in deiner Lebensführung beeinträchtigt. Du befindest dich in einem Zustand der Hypervigilanz, der es dir unmöglich macht, abzuschalten, zu entspannen oder zu vertrauen.
Geringes Selbstwertgefühl: Du denkst, nicht wertvoll zu sein oder keine wirkliche Lebensberechtigung zu haben. Du kritisierst dich immer wieder harsch und glaubst, keine Unterstützung, Schutz und Liebe verdient zu haben. Erlebte Verletzungen und Gewalt führst du auf dein eigenes Versagen zurück oder meinst, sie aufgrund eigener Mängel verdient zu haben.
Scham- und Schuldgefühle: Du fühlst dich unzulänglich und schuldig für Dinge, die sich deiner Kontrolle entziehen. Gerade leicht triggerbare Schamgefühle zählen zu den häufigsten Symptomen von Bindungstrauma.
Bindungstrauma hinterlässt das Gefühl "Mit mir stimmt etwas nicht" und führt oft zu einem geringen Selbstwertgefühl und nagenden Selbstzweifeln 2. Beziehungsebene:
Schwierigkeiten, sich zu binden: Du tust dir schwer damit, gesunde, unterstützende Beziehungen zu erkennen, aufzubauen oder aufrechtzuhalten. Ein entwickelter unsicherer Bindungsstil kann es schwierig machen, ein Maß an Nähe zu finden, das sich gut anfühlt und nicht bedrohlich wirkt.
Angst vor Nähe und Intimität: Die Angst, vernachlässigt, verletzt oder verlassen zu werden, kann dazu führen, dass du Nähe und Verletzlichkeit vermeidest und nicht in der Lage bist, dich anderen Menschen gegenüber zu öffnen.
Wiederholung alter Beziehungsmuster: Du gehst immer wieder Beziehungen zu Menschen ein, die dich ähnlich verletzen oder im Stich lassen wie es die frühen Bezugspersonen getan haben. Man spricht in diesem Fall von Trauma-Reenactment bzw. Reinszenierung. Erst wenn wir die Muster erkennen und als Symptome unseres Bindungstrauma einordnen können, wird relationale Veränderung möglich.
3. Psychische und kognitive Symptome:
Konzentrationsschwierigkeiten und Probleme mit dem Gedächtnis: Du hast häufig Schwierigkeiten, dich zu konzentrieren. Besonders in sehr stressigen Phasen scheinst du dir nichts merken zu können. Auch Störungen des biografischen Gedächtnisses finden sich häufig.
Dissoziation: Du erlebst diese selbstschützende Wahrnehmungsveränderung etwa als Gefühl, neben dir zu stehen oder dich nicht mehr zu kennen, dir selbst, deinen Gedanken oder Gefühlen gegenüber entfremdet zu sein. Auch kann die Umwelt fremd, wattig, verzerrt und verändert wirken.
Anfälligkeit für psychische Folgeerkrankungen: Du leidest womöglich immer wieder oder chronisch unter Depressionen, Angststörungen, dissoziativen Symptomen oder aber Symptomen, die an eine ADHS im Erwachsenenalter erinnern.
Körperliche Symptome:
Chronische Schmerzen: Du hast körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Verdauungsbeschwerden.
Schlafstörungen: Du hast Einschlaf- oder Durchschlafstörungen. Du wachst morgens nicht erholt auf, selbst wenn du eigentlich lang genug geschlafen hast. Die Tiefschlafphasen verkürzen sich oder bleiben ganz aus.
Autoimmunerkrankungen und Krebs: Chronischer Stress schwächt das Immunsystem und kann dadurch das Risiko für Autoimmunerkrankungen ( wie z.B. Lupus, Rheumatoide Arthritis und Sjögren Syndrom) und Krebserkrankungen erhöhen.
Überempfindlichkeit gegenüber Reizen: Du reagierst sehr empfindlich auf Licht, Gerüche, Geräusche oder Berührungen.
Frühe Traumatisierung hinterlässt auch Spuren auf körperlicher Ebene und kann etwas chronische Schmerzen oder Verdauungsbeschwerden verursachen. 5. Verhaltensebene:
Vermeidungsverhalten: Du vermeidest Reize und Situationen, die dich an das zurückliegende Trauma erinnern könnten. Oft nimmt Vermeidungsverhalten mit der Zeit zu und erstreckt sich auf immer mehr Reize. Diese zunächst als entlastend wahrgenommene Bewältigungs-Strategie sorgt jedoch mit der Zeit dafür, dass du in deiner Lebensführung immer stärker eingeschränkt bist und nimmt dir außerdem die Möglichkeit, das erlebte Trauma als abgeschlossen und als der Vergangenheit zugehörig zu empfinden.
Risikoverhalten: Du neigst zu impulsivem oder selbstschädigendem Verhalten wie etwa riskanten sexuellen Beziehungen oder riskanten Sportarten. Diese Verhalten kann sich vor allem dann zeigen, wenn du unter dem chronischen Gefühl der Leere und der Gefühlstaubheit leidest. Oft ist es auch ein Spiegel der früher erlebten Gewalt, die nun gegen das Selbst gerichtet ist.
Selbstbetäubung: Du hast Verhaltensweisen entwickelt, die den Schmerz oder die innere Leere betäuben oder andere starke, überwältigende Gefühle regulieren sollen, wie etwa stoffgebundene Süchte, Sportsucht, Arbeitssucht oder co-abhängiges Verhalten in Beziehungen. Dir ist es nicht möglich, diese Muster abzulegen, obwohl du sie als schädlich erkennst. Sollte es dir doch gelingen, kommt es häufig zu einer Symptomverschiebung, das heißt, dass die eine Sucht gegen eine andere ausgetauscht wird.
Selbstoptimierung und Perfektionismus: Du bist getrieben von der Idee, dich immer weiter optimieren zu müssen und dir keine Fehler erlauben zu dürfen, weil du so, wie du bist, nicht genügst. Du kannst dich nicht über erreichte Erfolge freuen, dich feiern oder ausruhen und bist immerzu damit beschäftigt, das nächste Ziel zu verfolgen.
Perfektionismus stellt oftmals die kindliche Lösung erlebter Zurückweisung und Vernachlässigung dar und dient dem Wiedererlangen des Gefühls der Sicherheit. All die genannten Schwierigkeiten können Anzeichen einer Bindungstraumatisierung sein, sind allein für sich genommen aber kein eindeutiger Beleg dafür, dass eine solche Traumatisierung stattgefunden hat. Auf dem Trauma-Gebiet erfahrene Therapeuten können dir dabei helfen, mehr Klarheit zu erlangen, dir deiner Prägungen bewusst zu werden und wichtige und heilsame Schritte auf dem Weg zur Bewältigung deiner belastender Muster zu nehmen.
Du kannst außerdem über das Erlernen von Achtsamkeit und Selbstreflexion dazu beitragen, dass du dich selbst und deine Schwierigkeiten besser verstehen lernst und mit der Zeit mehr Einfluss auf deine Reaktionen im Hier und Jetzt nehmen kannst. Und ganz wichtig: Du kannst lernen, Beziehungen zu sicheren, stabilen Menschen aufbauen, die dich auf deinem Weg unterstützen und dazu beitragen, dass alte Bindungsverletzungen mit der Zeit ausheilen können.
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